Projekte machen Schule - Projektunterricht in der schulischen-politischen Bildung
Volker Reinhardt (Hg.) (2005). Projekte machen Schule – Projektunterricht in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag. 19.80 €. 256 Seiten. ISBN 3-89974-178-1.
Vorbemerkung
Wenn im Schillerjahr 2005 eine Sammlung von theoretischen Beiträgen, Best-practice-Beispielen und Praxishilfen zum Projektlernen erscheint, dann drängt sich die Erinnerung an eine Sentenz auf, mit der Friedrich Schiller das Thema „Kant und seine Ausleger“ in den Xenien kommentiert hat:
Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung
Setzt! Wenn die Könige bau’n, haben die Kärrner zu tun
Der „König“ ist in diesem Fall John Dewey (1859 – 1952), der amerikanische Philosoph, der 1916 mit „Demokratie und Erziehung“ den großen Bauplan für eine demokratische Schule und eine ihr angemessene Art des Lernens vorgelegt hat.
Einordnung in den aktuellen Hintergrund
Die Neuausgabe von Deweys „Demokratie und Erziehung“ bei Beltz 1993 enthält ein Nachwort des Herausgebers Jürgen Oelkers, das die speziellen Schwierigkeiten der deutschen Rezeptionsgeschichte deutlich macht. ( Dewey in Deutschland – ein Missverständnis, Nachwort von Jürgen Oelkers, in: John Dewey, Demokratie und Erziehung, Weinheim und Basel 1993, S. 497 ff)
Die Auseinandersetzung mit Deweys Entwurf ist seitdem implizit und explizit vielfältig weitergegangen. Drei Publikationen sollten m.E. als Hintergrund dieser Rezension besonders hervorgehoben werden:
- Auf der Ebene der Schulentwicklung:
Hartmut von Hentig, Die Schule neu denken, München/Wien 1993, viel gelesen, noch mehr zitiert und inzwischen mehrfach aufgelegt. Das Buch schließt mit dem dort empfohlenen demokratischen Leitbild „Schule als Polis“ direkt an Deweys Vorstellung von Schule als „embryonic society“ an. - Auf der Ebene der theoretischen Begründung:
Johannes Bastian/Herbert Gudjons/Jochen Schnack/Martin Speth (Hg.), Theorie des Projektunterrichts, Hamburg 1997. Dieser Band beleuchtet in historischer, pädagogischer und didaktischer Perspektive die Begründungen für Projektunterricht. Ausgangspunkt aller Einzelüberlegungen ist ausgesprochen oder unausgesprochen Deweys Begriff der denkenden Erfahrung. - Auf der Ebene der Didaktik und Schulentwicklung:
Wolfgang Emer/Klaus-Dieter Lenzen, Projektunterricht gestalten – Schule verändern, Hohengehren 2002. Basierend auf den jahrzehntelangen Projekterfahrungen der Laborschule und des Oberstufenkollegs der Universität Bielefeld wird in diesem Buch Projektunterricht als didaktisches Kernstück der Einübung in die „Demokratie als Lebensform“ (Dewey) in Unterricht und Schulleben greifbar.
Der von Volker Reinhardt herausgegebene Sammelband kann als Versuch gesehen werden, die Auseinandersetzung mit Deweys Konzept auf der fachdidaktischen Ebene des Politikunterrichts weiterzuführen und für eine zeitgemäße Gestaltung schulischen Lernens fruchtbar zu machen. (Bereits in der Einleitung des Herausgebers findet sich auf S.8 ein zentraler Bezug auf Dewey: „Sehr lange wurde Deweys Ansatz von der politischen Bildung und der Politikdidaktik wenig beachtet und erfährt nun seit einiger Zeit zu Recht einen Aufschwung.“) Er erschien 2005 zu einem Zeitpunkt und in einem öffentlichen Umfeld, in dem u.a. durch eine Veröffentlichung des Politikwissenschaftlers Gerhard Himmelmann zum Demokratielernen, (Gerhard Himmelmann, Demokratie Lernen, Schwalbach/Ts. 2001. Auch in diesem fachwissenschaftlichen „Lehr- und Studienbuch“ spielt Deweys Ansatz eine grundlegende und zentrale Rolle (vgl. S. 40 ff).) durch das BLK-Programm Demokratie lernen und leben (2002 – 2007) und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe 2005) eine lebhafte Diskussion um das Verhältnis von Politik(fach)unterricht und Demokratielernen begonnen hatte.
Der Band enthält auf rund 250 Seiten eine Einleitung, sieben eher theoretische Beiträge und sieben Praxisberichte.
Er wendet sich an Didaktiker/-innen der politischen Bildung, Lehrer/-innen und Studierende der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer und Teilnehmer/-innen der Lehrerfortbildung.
Das Buch erhebt den Anspruch, Theorie und Praxis des Projektlernens für den Bereich der demokratischen und politischen Bildung in neuer Weise miteinander zu verknüpfen.
Die theoretischen Beiträge
Eberhard Jung geht es um Projektpädagogik als didaktische Konzeption und um die Entfaltung von Projektunterricht als „unterrichtliche Normalform“. Die gegenwärtige Diskussion um Bildungsstandards, Kompetenzorientierung und Literacy sieht er als besondere Chance für die Projektpädagogik, da ihre Verfahrensweisen dem allgemeinen Verständnis von Kompetenz als „Befähigung zur Bewältigung von Lebenssituationen“ besonders gut entsprechen. Er distanziert sich von einem verkürzten Verständnis von „Projektmethode“ als Instrument der Problemlösung und versteht das didaktische Konzept der Projektpädagogik mit Dewey umfassender als „Methode der bildenden Erfahrung“ durch lernende Betätigung, also als didaktisches Modell. Der Beitrag reflektiert die wichtigsten Positionen der aktuellen Auseinandersetzung um Chancen und Realisierungsmöglichkeiten und positioniert sich selbst auf der Linie der Denkschrift „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“ der Bildungskommission NRW (1995). Er geht von einer unterrichtlichen Realität aus, in der der lehrerzentrierte Frontalunterricht noch über 90% der Unterrichtszeit in Anspruch nimmt, und macht einen Vorschlag, wie dieser Zustand durch die systematische Einführung von Gruppenarbeit in Richtung Projektorientierung überwunden werden kann (S.25 – 27). Ganz im Sinne Deweys betont Jung schließlich die Rolle der „Sozialisationsagentur Schule“: „Demokratie-Lernen in schulisch-institutionellen Bezügen muss demokratisches Wissen und Können vermitteln, wozu entsprechende Prägungen und Verhaltensweisen zu festigen sind. Diese Aufgabe ist nicht nur im Rahmen der politischen Bildung (als Fach und Prinzip) zu leisten, sondern durch das gesamte schulische Miteinander.“ (S.30)
Volker Reinhardt kündigt zu Beginn an, mit der Verwendung des Sammelbegriffs „Projektorientierung“ die Auseinandersetzungen um Begriffsvariationen wie Projektmethode, Projektunterricht, Projektmanagement, Projektarbeit usw. vermeiden zu wollen. Das Verhältnis von Projektorientierung und Demokratie-Lernen soll also näher betrachtet werden.
Bereits auf den folgenden dreieinhalb Seiten zeigt sich aber, dass diese Vermeidung nicht durchgehalten werden kann. Auf S. 37 distanziert er sich mit Dewey eindeutig von einem verkürzten technisch-handwerklichen Projektverständnis, geht dann auf die differenten Positionen von Suin de Boutemard, Hänsel und Knoll ein, wendet sich mit Gagel „gegen die Reduzierung dieser Lehr-Lernform auf eine Methode, auf die ‚Projektmethode’, wie sie Frey favorisiert“ (S.38 unten) und landet schließlich wieder bei Dewey im Original: „Methode steht nicht im Gegensatz zum Stoff, sondern besteht in der wirksamen Verwertung des Stoffes zur Erreichung bestimmter Ziele. Methode steht im Gegensatz zu Zufall und schlecht überlegtem Handeln.“ (S.39) Der Begriff des Demokratie-Lernens wird anschließend in enger Anlehnung an Himmelmann entfaltet. Die Projektorientierung wird als Chance gesehen, die „Realitätsferne“ des „eher unbeliebten“ Unterrichtsfaches Politik dadurch aufzuheben, dass „Konzepte für ‚politik- und demokratievernetzte’ Projekte“ entwickelt werden, in denen die Ebenen Demokratie als Lebensform, Demokratie als Gesellschaftsform und Demokratie als Herrschaftsform verknüpft werden können. Um dies in der erforderlichen Qualität leisten zu können, dürfe kein Gegensatz zwischen dem klassischen Fachunterricht und dem projektartigen Demokratie-Lernen aufgebaut werden, sondern ganz im Gegenteil: Das Fach Politik müsse solche Projekte als sinnvolle „Ergänzung“ begreifen und die „verantwortliche Federführung“ dafür übernehmen (S.47 unten). Dieser Schluss schwächt die zuvor herausgestellte Bedeutung der Projektorientierung wieder etwas ab; das Projekt erscheint wieder lediglich als Ergänzung, als „eine weitere schülerorientierte Lehr-/Lernform“.
Gotthart Breit sieht Projektarbeit und Politikunterricht als sich ergänzende Komponenten des Demokratie-Lernens. Die Projektarbeit übernimmt dabei den Part des praktischen Tuns, der eingreifenden Initiative von Schülerinnen und Schülern im gesellschaftlichen Umfeld ihrer Schule, der Politikunterricht ist dagegen vor allem für die Entwicklung des selbständigen Denkens zuständig. Um diese Arbeitsteilung zu illustrieren, analysiert der Autor zwei Beispiele: Im ersten Beispiel organisierten Schüler erfolgreich eine Spendenaktion für zwei Mukoviszidose-Kranke, im zweiten versuchten sie erfolglos das Fällen einer alten Kastanie auf dem Nachbargrundstück ihrer Schule zu verhindern. Breit analysiert, was die Jugendlichen dabei gelernt haben bzw. gelernt haben könnten oder sollten. Dazu gehört für ihn vor allem auch, mit Teilerfolgen, Frust und Misserfolgen (wie im Fall der Kastanieninitiative) umgehen zu können, was nur bei entsprechenden Kenntnissen über die Funktionsweise der komplizierten Herrschaftsform Demokratie möglich ist. Die „Vorstellung von der eigenen Bürgerrolle in der Demokratie mit ihrem Eintreten für Menschenwürde, Grundwerte und Grundrechte schützt vor dem Rückzug ins Private und gibt die Kraft, trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen gemeinsam mit anderen in der Öffentlichkeit aktiv zu werden. ... Sowohl die Projektarbeit als auch der herkömmliche Politikunterricht leisten dazu einen Beitrag; sie schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen einander.“ (S.65)
Dirk Lange betont, dass sich „politisches Lernen nicht hinreichend als Rezeption von Stoffwissen über Politik begreifen lässt“ (S.70 unten). Er sieht die besondere Bedeutung des Lernens in Projekten in der forschenden Haltung gegenüber einer „problemhaltige(n) Situation aus der Lebenswelt der Lernenden.“ (S.72) Für den Politikunterricht sei es deshalb entscheidend, „Politikbezüge des Alltags und Alltagsbezüge des Politischen“ zum Ausgangspunkt einer politischen Bildung zu machen, die mit „forschendem Projekt-Lernen“ die Trennung zwischen schulischem Lernen und gesellschaftlicher Wirklichkeit überschreitet und erkannte Problemlagen zugleich verstehen und verändern will.
Wolfgang Sander beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der in den letzten Jahren außerordentlich gewachsenen Bedeutung der digitalen Medien für den Projektunterricht und die politische Bildung. „Die didaktischen Chancen digitaler Medien liegen in erster Linie in ihrem Gebrauch als ‚Werkzeuge’ in den Händen der Schülerinnen und Schüler, mit deren Hilfe sie komplexe Aufgaben bewältigen, Lernprodukte erstellen und Ergebnisse präsentieren können.“ (S.83) Die zunehmende Verfügbarkeit dieser Werkzeuge im schulischen Alltag verlangt nach Veränderungen der Lernkultur. „Für diese pädagogische Modernisierung kann das rund 100 Jahre alte Konzept des Projektunterrichts nach wie vor einen wichtigen Beitrag leisten“. (S.88)
Wolfgang Beutel und Gerhard Himmelmann greifen die Kontroverse zwischen den Protagonisten einer demokratischen Erziehung und denen der politischen Bildung auf, zeichnen deren Entstehung und Entwicklung nach und zeigen am Beispiel des Wettbewerbs Demokratisch Handeln, dass es sich um eine Scheinkontroverse handelt. Beiden Seiten geht es letztlich um die Förderung demokratischer Handlungskompetenz, die den kritischen Diskurs und das distanzierte Nachdenken ebenso braucht wie das soziale Lernen. Sie wären gut beraten, dieses integrierende Ziel ins Zentrum künftiger Kooperation zu stellen.
Klaus Koopmann stellt in seinem Beitrag das US-amerikanische Lernwerk „We the people ... project citizen“ vor. Es handelt sich um ein didaktisches Konzept, das „die Befähigung zur aktiven demokratischen Bürgerbeteiligung zum Ziel hat“. Es richtet sich vor allem an Schülerinnen und Schüler der 6. – 9. Klassen. Kern ist die Identifizierung und Bearbeitung selbstentdeckter Probleme im sozialen Nahraum (Gemeinde bzw. Stadtteil). Ein Problem wird ausgewählt, Lösungen werden erarbeitet und schließlich einer Öffentlichkeit - möglichst dem kommunalen Parlament - präsentiert. Jedes Beteiligungsprojekt endet mit einer Reflexion der gemachten Erfahrungen.
Orientierung an der Lebenswelt, Erfahrungslernen, Problemlösendes Lernen, Forschendes Lernen, Service-Learning – die spezielle Mischung dieser „progressiven“ didaktischen Elemente ist für Koopmann wesentliche Ursache für den in zwei empirischen Studien evaluierten Erfolg dieses Civic-Education-Programms. Koopmann selbst hat 2001 im Verlag an der Ruhr unter dem Titel „Projekt: Aktive Bürger“ eine deutsche Adaption veröffentlicht.
Die Praxisberichte
Fünf der sieben Praxisberichte kommen aus Baden-Württemberg, einer aus Bayern und einer aus Hessen. Hier hätte man sich wenigstens einen Hinweis auf einschlägige Veröffentlichungen und Archive in NRW (Landesinstitut Soest, Laborschule und Oberstufenkolleg Bielefeld) und Hamburg (z.B. Thomas Sievers (Hg.), Fachprojekte für die Sekundarstufe II, Westermann, Braunschweig 2004) gewünscht.
Die Würdigung dieses Teils soll eher summarisch erfolgen, da sich die einzelnen Beispiele in der Art der Darstellung nicht wesentlich von reflektierten Projektberichten anderer Veröffentlichungen unterscheiden. Die Checklisten am Ende jedes Projekts sind insofern verdienstvoll, als sie auf mögliche Stolpersteine und auf Transfermöglichkeiten aufmerksam machen.
Die einzelnen Projektbeispiele sind zwar jedes für sich genommen interessant, aber abgesehen davon, dass alle irgendwie mit Politikunterricht und/oder Demokratie-Lernen zu tun haben, wirkt die Zusammenstellung doch eher zufällig. Der Praxisteil hätte m.E. eine eigene Einleitung verdient, die die Kriterien der Auswahl erläutert und in einen übergreifenden curricularen, bildungspolitischen oder systematischen Zusammenhang eingeordnet hätte.
Positiv beeindruckt hat mich das Projektseminar der Pädagogischen Hochschule Freiburg, da sich hier eine projektorientierte Form der Lehrerbildung zeigt, die für die Entwicklung und Förderung der Projektkompetenz künftiger (Politik-)Lehrerinnen und (Politik-)Lehrer zukunftsweisend sein könnte. Zwar scheint mir der Übertragungsversuch auf die 7. Klasse noch nicht ganz geglückt – eine höhere Klassenstufe wäre vielleicht geeigneter gewesen - aber die Erprobung und Evaluation solcher Formen des Demokratie- und Politik-Lernens in der Lehrerbildung sollte unbedingt weitergehen und Nachahmer finden.
Schlussbemerkung
Das von Volker Reinhardt herausgegebene Sammelwerk ist ein anregender Versuch, durch die fachdidaktische Reflexion der Möglichkeiten des Projektlernens für den Politikunterricht diesem neue Impulse zu geben und die unfruchtbare Gegenüberstellung von politischer Bildung und Demokratie-Lernen zu überwinden.
Das Spektrum des Theorieteils reicht dabei von der Anerkennung der Projektarbeit als wünschenswerter Ergänzung des herkömmlichen Fachunterrichts (Reinhardt, Breit) bis zur Bemühung, Projektunterricht als unterrichtliche Normalform zu etablieren (Jung) und dem Hinweis, dass dieser unter dem Gesichtspunkt der digitalen Medien eine zentrale Rolle bei der Entwicklung einer zeitgemäßen Lernkultur spiele (Sander).
Deweys Werk „Demokratie und Erziehung“ zeigt sich einmal mehr als tragende Grundlage der einzelnen theoretischen Beiträge. Den Anspruch, Theorie und Praxis des Projektlernens mit der Politikdidaktik in neuer Weise zu verknüpfen, könnte erst ein Demokratiecurriculum einlösen, das zugleich eine gelungene Synthese der hier vorgestellten Ansätze wäre.
10.05.2006
Wolfgang Steiner (Projektleiter „Demokratie lernen & leben“ in Hamburg)
Schlagworte: Projektlernen