Eduard-Spranger-Schule in Reutlingen; Schüler helfen Schülern – Service-Learning an der Eduard-Spranger-Schule in Reutlingen; Oktober 2004
Die Eduard-Spranger-Schule in Reutlingen liegt in einem so genannten sozialen Brennpunkt. Schulleitung und Lehrer/-innen sahen dies als Herausforderung für eine demokratische Schulentwicklung und initiierten mit Schüler/-innen der 8. Klasse und in Zusammenarbeit mit dem Jugendmigrationsdienst ein Service-Learning-Projekt: Schüler/-innen aus der Mittelstufe unterstützen Grundschüler/-innen beim Lernen und helfen ihren Familien bei Kommunikation und Verständigung mit der Schule. Ein Projekt, bei dem alle Beteiligten profitieren.
Für Peter Kick, Schulleiter an der Eduard-Spranger-Schule in Reutlingen, gestaltet sich demokratische Schulentwicklung nach den Bedürfnissen und Erfordernissen der Schüler/-innen. Mit einem Anteil von 45 bis 55 % Schüler/-innen mit Migrationshintergrund, vielen Schüler/-innen aus Übergangswohnheimen und ähnlichen „Problemgebieten“ unserer Gesellschaft zählt die Schule zu den so genannten Schulen in sozialen Brennpunkten. Entsprechend groß sind die Sprach- und Lernprobleme bereits bei den neu eingeschulten Kindern: Eines hat Probleme mit dem Lesen, ein anderes mit den Grundrechenarten.
Diese Probleme sind der Ansatzpunkt eines Service-Learning-Projektes, das die 8. Klassen mit Unterstützung von Bayram Ceran, Sozialarbeiter beim Jugendmigrationsdienst der Bruderhaus Diakonie, seit Herbst 2003 durchführen. Der Ansatz des Service-Learning stammt aus den USA und verbindet kognitives Lernen mit einem „Dienst am Gemeinwohl“ (engl. „service“), der konkrete Probleme im Lebensumfeld angeht. So wenden Schüler/-innen theoretisches Wissen in praktischen Kontexten an und tragen die gewonnenen praktischen Erfahrungen wiederum ins Klassenzimmer zurück, wo sie reflektiert und mit der Theorie abgeglichen werden können.
Im Rahmen ihres selbst gewünschten und im Lehrplan für die 8. Klassen nun festgeschriebenen Sozialpraktikums kümmerten sich im Schuljahr 2003/2004 zehn Schüler der Klasse 8a als Schülermentoren um die Grundschüler aus der ersten und zweiten Klasse. Sie kommen mindestens ein Mal die Woche in die Familie ihres „Patenkindes“, helfen ihm, lesen, schreiben und rechnen zu lernen, unterstützen die Eltern, die wenig deutsch sprechen, beim Elternabend, bei der Übersetzung amtlicher Dokumente und erklären ihnen unbekannte Lehr- und Lernmethoden aus der Schule.
Bayram Ceran, selbst türkischer Herkunft, weiß um die Probleme, die nicht nur im sprachlichen Bereich liegen. Da viele Familien eine „spielerische Lernkultur, wie sie inzwischen an Grundschulen hier üblich ist, kulturell nicht kennen, können sie mit den Lernmethoden oft wenig anfangen“, erklärt der Sozialarbeiter. Gemeinsames Lesen zu Hause oder Probediktate fänden nicht statt. Hausaufgaben schauten sich die Eltern selten an. Genau hier setzt die Kompetenz der Schülermentoren an. Acht der zehn Schüler haben selbst einen bikulturellen Hintergrund, sprechen deutsch und türkisch, deutsch und italienisch oder deutsch und russisch fließend. Sie wissen um die sprachlichen wie kulturellen Verständigungsschwierigkeiten. „Ich kann die Probleme gut nachvollziehen, da muss man doch helfen“, beschreibt einer der Mentoren seine Motivation für das Projekt.
Bevor solch eine Zusammenarbeit jedoch stattfinden kann, muss zunächst eine vertrauensvolle Beziehung zu den Familien geschaffen werden. Diese knüpften Michaela Menichetti, Betreuungslehrerin für Kinder mit Migrationshintergrund an der Schule, und Bayram Ceran, der früh die Familien besuchte und ihnen den Ansatz des Projektes erläuterte, in Rücksprache mit den Grundschullehrer/-innen. Bayram Ceran begleitete die Schülermentoren dann auch bei ihren ersten Besuchen in den Familien. Nachdem die ersten Erfahrungen gewonnen waren, erhielten die Achtklässler ein einwöchiges Training zu religionspädagogischen und interkulturellen Themen sowie eine Schulung in Lernmethoden für Grundschüler. Jede Woche treffen sich die Mentoren außerdem mit ihren Betreuern, Michaela Menichetti und Bayram Ceran, um ihre Erfahrungen auszutauschen und aktuelle Probleme zu besprechen. Praktische Erfahrungen werden so mit fachlicher Fortbildung und Reflexionsphasen verbunden, um einen optimalen Lernerfolg auf kognitiver und emotionaler Ebene, auch bei den Mentor/-innen, zu erreichen.Die Erfolge ihrer Arbeit können sich bereits sehen lassen: Eines der betreuten Grundschulkinder konnte seine erheblichen Leseschwierigkeiten deutlich reduzieren und muss so keine aufwändige und kostspielige logopädische Betreuung in Anspruch nehmen. Die Mutter eines anderen Kindes sagt: „Ich komme nun gerne in die Schule.“ Das Ziel des Projektes, Brücken der Verständigung und Kommunikation zu schlagen, ist somit erreicht und ebenso auch ein wichtiger Teil der demokratischen Schulentwicklung: „Die ausländischen Familien gewinnen an Gleichberechtigung und Mitspracherecht“, erläutert Michaela Menichetti ihr Demokratieverständnis. Sie können dank der Vermittlungsarbeit der Schülermentor/-innen am Schulleben aktiv partizipieren. Aber auch für die Mentor/-innen ergibt sich aus dem Projekt ein Zuwachs an Demokratiefähigkeit:
Sie arbeiten ihre eigene bikulturelle Identität auf und bringen sie in einer produktiven Weise in der Gemeinschaft ein. Es ist wohl genau das, was Peter Kick als „Gesellschaftsbefähigung“ seiner Schüler/-innen bezeichnet und was er sich als Ziel seiner demokratischen Schulentwicklung gesetzt hat.
Schulbeschreibung
Die Eduard-Spranger-Schule liegt in der Kleinstadt Reutlingen in einem gemischten sozialen Umfeld. Über 29 Nationen lernen an der Schule. Die Schülerschaft ist breit sozial gefächert. Die Schule ist eine Ganztagsschule, verfügt über sozialpädagogische Angebote, eine aktive Schülermitverwaltung, fächerübergreifenden
Unterricht und regelmäßig stattfindende Projektwochen.