7. "Nacht der Jugend" in Bremen: Hinsehen bei Verletzung der Menschenwürde – Hinsehen bei Kinderarmut in Bremen
Am 9. November fand im Bremer Rathaus die 7. Nacht der Jugend statt. Etwa 2500, vor allem jugendliche Besucher nahmen an der Veranstaltung teil, die in jugendgemäßer Form an die Reichspogromnacht und die Gräuel der Nazis erinnerte.
"Ich will dich sehen" lautete das Motto in diesem Jahr. Viele Opfer des Nationalsozialismus hatte es besonders verstört, dass die meisten Bekannten, Nachbarn und Freunde wegschauten, wenn sie abgeholt wurden. Die "Nacht der Jugend" tritt dagegen für das Hinsehen ein - Hinsehen nicht nur, wenn Menschen auch heute verfolgt, diskriminiert, gedemütigt werden, Hinsehen auch, wenn die Probleme und Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft nicht hinreichend wahrgenommen und diskutiert werden.
Das Programm der "Nacht der Jugend" reichte
- in der Musik von HipHop über Gospel bis hin zu klassischer Klaviermusik,
- beim Theater vom politischen Schultheater über Ballett bis hin zum Chor der Bremer Oper,
- von Zeitzeugenberichten, über Lesungen zur Verfolgung der Sinti und Roma bis hin zur Verleihung des „Udo-Lindenberg-Preises“,
- bei den Ausstellungen von dem Projekt „Stolpersteine“ über die Kinderarmut in Bremen bis hin zu einer Vernissage mit Schülerplakaten zur "Nacht der Jugend".
Mehr als 500 Schüler hatten die Veranstaltung in Projekten vorbereitet oder arbeiteten mit ihren Schülerfirmen auch während der Veranstaltung an ihrem Gelingen. Allein 160 Schüler hatten in einem Projekt forschenden Lernens im Vorfeld das Thema „Kinderarmut“ in Deutschland und vor allem in Bremen untersucht. Auf der Nacht der Jugend präsentierten sie eine große Ausstellung (siehe Kasten rechts – als Vorlage für ähnliche Projekte in anderen Städten nutzbar) und diskutierten ihre Ergebnisse mit den Fachvertretern der Politik in Bremen:
- Senatorin Karin Röpke (SPD)
- Bürgerschaftsmitglied Sandra Ahrens (CDU)
- Fraktionschefin Karoline Linnert (Grüne)
- Cornelia Bartels (Stadtteilbeirat Walle PDS/Linke)
- Bürgerschaftsmitglied und Juso-Vorsitzender Thomas Ehmke
Die Schüler hatten herausgefunden,
- dass die Empfänger von ALG II unter der Armutsgrenze laut 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung liegen,
- dass die Zahl der armen Kinder in Bremen seit der Einführung von Hartz IV von 19% auf 26% angestiegen ist - also mehr als jedes vierte Kind in Bremen arm ist, in manchen Ortsteilen mehr als jedes zweite Kind,
- dass die Regelsätze des ALG II für z.B.einen 13-Jährigen mit insgesamt 207 Euro pro Monat viel zu niedrig sind.
Dazu ein paar Beispiele:
- Für Nahrung stehen 79,62 Euro im Monat zur Verfügung. Das sind 2,62 Euro am Tag. Isst der Schüler subventioniert in der Schulmensa zu Mittag, zahlt er 1,53 Euro. Für 1,09 Euro soll er dann frühstücken, Zwischenmahlzeiten und Abendbrot einnehmen, vielleicht mal etwas Süßes und auch alle Getränke bezahlen. „Leitungswasser statt Cola“ überschrieb die taz ihren Bericht zum Projekt.
- 10,80 Euro hat ein 13-Jähriger im Regelsatz für den öffentlichen Nahverkehr zur Verfügung. Wenn die Schule weiter entfernt ist, braucht er in Bremen eine Schülermonatskarte für die Straßenbahn. Die kostet aber 28,20 Euro. Soll er beim Essen sparen? Oder er fährt mit dem Fahrrad zur Schule. Das Geld für das Fahrrad bekommt er nicht mehr vom Sozialamt, er muss es sich vielmehr aus dem Regelsatz ansparen. Dort sind jeden Monat 0,44 Euro vorgesehen. Wenn er 34 Jahre spart, hat er ein neues Rad. Wenn er sechs Jahre spart, hat er ein gebrauchtes Rad vom Flohmarkt.
- 1,32 Euro hat der Schüler für Schreib- und Zeichenmaterialien. Dafür bekommt er vielleicht einen Collage-Block und einen halben Kuli. So ausgestattet macht Lernen richtig Spaß. Schließlich lernen wir von allen Politikern immer wieder: Bildung ist der entscheidende Weg aus der Armut!
Die Presse in Bremen berichtete über das Projekt und die Ergebnisse wurden im Bremer Fernsehen gezeigt (siehe Kasten rechts). Die meisten Politiker, die bei der Nacht der Jugend anwesend waren, mochten die Rechercheergebnisse der Schüler aber nicht glauben, kannten sich z.T. nicht mit den Regelsätzen aus und warfen Nebelkerzen. Die Wichtigsten sollen hier wiederholt werden, weil ähnliche Projekte wahrscheinlich mit den gleichen Behauptungen konfrontiert werden:
- Einem Politiker war nicht klar, dass ein Kind von 207 Euro Regelsatz im Monat nicht nur Nahrung, sondern auch Kleidung, Kosmetikartikel, Bücher etc. bezahlen muss. Im Kasten rechts finden Sie die Aufteilung der 207 Euro auf alle Gütergruppen dargestellt. Es bleiben wirklich nur 2,62 Euro pro Tag übrig. Vor allem aber wurde behauptet, zu den 207 Euro Regelsatz käme noch das Kindergeld hinzu. Dann wären es fast 360 Euro im Monat. Die Zahlen des Projekts würden nicht stimmen. Ihr Irrtum: Das Kindergeld wird auf den Regelsatz vollständig angerechnet!
- Ein Politiker verunsicherte die Schüler zunächst mit der Frage: „Habt Ihr denn auch die 140 Euro Kinderzuschlag berücksichtigt?“ Auch dann lägen die Mittel für ALG II- Kinder bei etwa 350 Euro im Monat. Ihr Irrtum: 140 Euro Kinderzuschlag gibt es im Einzelfall nur für Eltern, die sich von ihrem Einkommen zwar selbst ernähren können. Nur für ihre Kinder reicht es nicht. Unmissverständlich heißt es, wenn man www.kinderzuschlag.de eingibt, auf der Seite der Bundesagentur für Arbeit: „Empfängern von Arbeitslosengeld II steht der Kinderzuschlag nicht zu“. Nur eine kleine Minderheit von Kindern können vorübergehend einen Zuschlag bekommen, wenn ihre Eltern gerade von Arbeitslosengeld auf ALG II abgestuft wurden. Das gilt aber nicht für jene, die bereits vor dem 31.12. 2004 Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe bezogen haben. Und dieser Zuschlag beträgt für Kinder höchstens 60 Euro für eine Übergangszeit von maximal zwei Jahren.
- Neben Unkenntnis und Nebelkerzen fanden die Schüler aber auch Unterstützung: Ein Politiker erklärte es für unter Experten völlig unstrittig, dass die Regelsätze viel zu niedrig und vor allem willkürlich festgesetzt seien. Entsprechendes hatten die Schüler im Vorfeld von Experten zum Thema Kinderarmut gehört, die den Deutschen Kinderschutzbund, den Paritätischen Wohlfahrtsverband, und die Arbeitnehmerkammer Bremen vertraten.
Immerhin: Die Politiker merkten, dass die Schüler ihnen auf Augenhöhe entgegentreten konnten, bestens informiert waren und nach Ende der Diskussion um 21:30 wurden die Diskussionen z.T. bis 24 Uhr fortgesetzt.
Die Schüler beließen es nicht dabei öffentlich ihr Anliegen wiederholt mit Politikern zu diskutieren, über die Presse, Funk und Fernsehen die Öffentlichkeit zu informieren. Sie schrieben auch einen Brief, den jede/r der gut 5000 Bremer Lehrerinnen und Lehrer in seinem Postfach vorfand: Hier schildern sie nicht nur ihre Arbeitsergebnisse zum Thema Kinderarmut, sie weisen vor allem darauf hin, dass in den Regelsätzen kein Cent für Reisen und Urlaub vorgesehen ist. Nur für Klassenfahrten gibt es noch auf Antrag eine Einmalleistung. Die Klassenfahrt ist daher für viele arme Kinder in Deutschland die einzige Chance „mal etwas anderes zu sehen“, aus dem eigenen Quartier herauszukommen. Der Brief endet: „Wir wünschen uns einen Boom von lehrreichen und spannenden Klassenfahrten auch durch die Bremer Lehrerinnen und Lehrer, die bisher davon Abstand nahmen. Bitte nehmen Sie die wachsende Kinderarmut in unserer Gesellschaft – die gerade in Bremen auch Einfluss auf die Resultate von Bildung hat (PISA) – auch als Lehrkraft zum Anlass für verstärktes Engagement zu Gunsten armer Kinder. Vielen Dank“ (Der ganze Brief ebenfalls im Kasten rechts).
Etliche Lehrer reagierten bereits per mail auf den Brief und baten um Unterrichtsmaterial. Hier ist es.
Wolfram Stein
Netzwerkkoordinator „Nacht der Jugend“, Bremen, BLK-Programm „Demokratie lernen und leben“