Die Fäden in die Hand bekommen und festhalten - die pädagogische Jahreskonferenz als Instrument demokratischer Schulentwicklung (Hamburg)
Durchführung bzw. Ablauf (inkl. Verantwortlichkeiten)
Welche Schritte kennzeichnen die Durchführung?
Die erste PJK mit neuem Konzept
Diese PJK fand am 14. Mai 2003 statt. Mehrere Arbeitstreffen der Vorbereitungsgruppe waren erforderlich gewesen, bis Ziel, Inhalt und Ablauf der Konferenz feststanden und eine Einladung an das Kollegium erfolgen konnte (siehe Protokoll Vorbereitungsgruppe). Ein ansprechender Tagungsort außerhalb der Schule wurde im Pädagogisch-theologischen Institut (PTI) gefunden.
Der Ablauf der Konferenz folgte der Funktion, aus der Prüfung des Vorhandenen neue Ziele zu bestimmen, und hatte daher die dreiteilige Form: Bilanz - Perspektiven - verbindliche nächste Ziele. Es gab drei stufenbezogene Arbeitsgruppen für diese drei Arbeitsphasen, die aus den jeweiligen Kollegien der Grundschule, der Beobachtungsstufe und der Sekundarstufe I bestanden (Tagesordnung) Die Vorbereitungsgruppe hatte zuvor in stufenbezogenen Teams ein Evaluationspapier zum Kapitel des Schulprogramms "Schülerselbstorganisation in der Ganztagsschule" für die jeweiligen Stufen präzisiert und Leitfragen für die drei Gruppenarbeitsphasen entwickelt.
Für die Bilanz wurden folgende Leitfragen zur Bestandsanalyse formuliert:
- Welche Aktivitäten, die soziales Lernen und Schülermitverantwortung fördern, gibt es bereits?
- Welche waren erkennbar erfolgreich, welche weniger, welche überhaupt nicht?
- Woran sehen/spüren/messen wir den Erfolg?
- Was können wir genauso weiter machen?
- Was sollten wir verändern: Unsere Erwartungen, unsere Methoden, unsere Kooperationspartner?
Die Arbeitsphase zur Entwicklung von Perspektiven erhielt Leitfragen, die pragmatisch genug waren, um Erreichbares zu visionieren:
- Wie können wir die bereits vorhandenen bewährten und erfolgreichen Aktivitäten verbessern und verstärken?
- Wo brauchen wir Unterstützung, Kooperationspartner, neue Impulse und Ideen?
- Was können wir tun, damit die vorhandenen und möglichen Einzelaktivitäten immer deutlicher als Teile eines demokratischen Schulprogramms erkennbar und spürbar werden?
Und schließlich wurde zur Erarbeitung der Jahresziele nach konkreten Maßnahmen gemäß dem Modell des "Mastercharts" aus der Projektdidaktik gefragt:
- Was genau wollen wir bis Sommer 2004 erreicht haben?
- Was zum Erreichen dieses Ziels/dieser Ziele haben wir schon?
- Welche Unterstützung brauchen wir dafür?
- Mit welchen Schritten wollen wir beginnen (was-wer-mit wem-wann)?
Die Konferenz dauerte von 9 - 18 Uhr. Die Gesamtmoderation erfolgte von außen (in diesem Fall durch den Hamburger Projektleiter des BLK-Programms); auch die stufenbezogenen Arbeitsgruppen wurden von Mitarbeiterinnen des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung moderiert. Für zusätzliche Anregungen sorgten Inputs von Expertinnen im Bereich außerschulische Jugendarbeit und Persönlichkeitsentwicklung. Jede Arbeitsgruppe präsentierte in der Schlussphase auf je drei Metaplantafeln ihre Ergebnisse zu Bilanz, Perspektiven und Verabredungen. Die Konferenz endete mit einer Schlussrunde und einem Feedback.
Für die Grundschule hatte sich das Kollegium auf der Konferenz folgende Jahresziele gesetzt:
- Ein Klassenrat soll in Klassenstufe 2,3 und 4 eingerichtet und erprobt werden.
- Lerngruppen- und jahrgangsübergreifendes Arbeiten von Schülern soll erweitert und erprobt werden.
- Die Lehrerkompetenz für das Soziale Lernen soll gestärkt werden.
Die Beobachtungsstufe (Klassen 5 und 6) formulierte die Ziele:
- Gemeinschaftliche Aufgaben übernehmen - die Klasse 5 wird am wöchentlichen Sporttag der Grundschule den Aufbau der Bewegungslandschaft übernehmen.
- Feste Klassenpatenschaften sollen eingerichtet werden.
- Klassennachmittage sollen als Ort des Sozialen Lernens genutzt werden.
- ein konstruktives Konfliktlösungsverhalten soll geübt werden.
Die KollegInnen der Sekundarstufe (Klassen 7-10) schließlich einigten sich auf folgende Ziele:
- Ein Sozialpraktikumskurs mit Schülern aus Klasse 8 bis 10 soll durchgeführt werden.
- Ein Redetrainingsprogramm für Klassensprecher und Schulsprecher soll mit Schuljahresbeginn anlaufen.
- Förderkurse für die Abschlussklassen zur Prüfungs- und Berufsvorbereitung sollen eingerichtet werden.
- Ein Streitschlichterkurs soll eingerichtet werden.
- Eine Stufenkonferenz soll im Februar 2004 stattfinden.
Konkrete Schritte und Termine zur Verwirklichung der Ziele wurden für jedes einzelne Ziel benannt und verbindlich beschlossen. Beispielsweise lautete ein Handlungsschritt der Grundschule: "bis Juli 03: Stundenplaner ansprechen wegen klassenübergreifendem Unterricht"; ein erster Schritt der Beobachtungsstufe: "vor den Sommerferien! Klasse 5: Planung des Sportaufbaus und der Patenschaft zur Vorschulklasse"; und für die Sekundarstufe konnte das im Juni 03 erschienene Protokoll schon vermerken: "Juni 03: Redetrainingsprogramm - einvernehmliches Gespräch mit Ute Grütter [der Fortbildnerin von der AWO] ist erfolgt, Finanzierung beantragt".
In einem Ergebnisprotokoll wurden in der ersten Juniwoche die auf der Konferenz beschlossenen Ziele sowie die vereinbarten Handlungsschritte mit den dazugehörigen Terminen dokumentiert. Die KollegInnen erhielten einen Hefter, der nicht nur den Text sondern auch Fotodokumente von der Konferenz enthielt. Hier begann sich das Auftauchen eines besonderen Werkzeugs der PJK abzuzeichnen, das im Laufe der nächsten Konferenzen zur Form eines Spiralordners mit ästhetisch ansprechender Gestaltung weiterentwickelt wurde.
Die folgende PJK
Zu dieser Jahreskonferenz am 10. Mai 2004 erhielten die KollegInnen eine Art Tagungsmappe in Form eines Spiralhefters, in dem nicht nur Einladungstext, Programmablauf und Anreisepläne zum Tagungsort enthalten waren, sondern zur Vorbereitung der KollegInnen auch ein Basistext zum Thema "Verantwortung übernehmen in Schule und Gemeinde" von Anne Sliwka sowie natürlich die Liste der Jahresziele der Konferenz von 2003, deren Umsetzung es diesmal zu evaluieren galt. Wieder traf sich das ganze Kollegium an einem Ort außerhalb des gewohnten Arbeitsumfelds - diesmal in einer angemieteten Gaststätte, die auch für das leibliche Wohl sorgte.
Die Konferenz folgte in ihrem Ablauf im Wesentlichen der Form der ersten Konferenz Bilanz-Perspektiven-Jahresziele (vgl. Themen PJK, Ablaufplan PJK); angereichert wurde sie durch zwei Vorträge nach der Bilanzierung, die die Weitergabe von Erfahrungen anderer Hamburger Schulen mit Sozialem Lernen und Gewaltprävention zum Gegenstand hatten (z.B. die Gesamtschule Fischbek mit dem Konzept eines Spiralcurriculums im sozialpädagogischen Bereich).
Die Bilanzierung (vgl. Protokollauszug PJK) ergab ein gemischtes Bild: in der Grundschule konnten die Jahresziele bis auf die lerngruppen- und jahrgangsübergreifenden Experimente fast vollständig umgesetzt werden. Letztere scheiterten "aus organisatorischen Gründen (Zeit, Räume)". Als hinderlich hatte sich auch die Einführung des Hamburger Lehrerarbeitszeitmodells erwiesen, da es für die notwendig ausführliche Kommunikation und Kooperation im Kollegium keine Arbeitszeit vorsieht. Die Beobachtungsstufe hatte Klassenpatenschaften und den Aufbau der Bewegungslandschaft am Sporttag der Grundschule übernommen. Klassenrat und Streitschlichtung waren Themen der Klassenlehrernachmittage gewesen. Dazu wurde für eine Weiterentwicklung festgehalten: "Es wäre wünschenswert, ein konkretes Programm verbindlich von Jahr zu Jahr weiterzugeben. Auch die Entwicklung eines 'Spiralcurriculums' ist erstrebenswert."
Die Sekundarstufe hatte als Erfolg die Durchführung eines Sozialpraktikums zu verbuchen, eine Schülerin hatte sogar explizit wegen der Teilnahme an diesem Kurs einen Arbeitsplatz erhalten. Sehr erfolgreich konnten sich die SchülerInnen des Redetrainingskurses, der auch in diesem Jahr begann, im Ernst-Deutsch-Theater mit ihren Szenen zur Konfliktlösung präsentieren. Gerade für diesen Kurs war jedoch die Fortführung im nächsten Schuljahr sowohl aus personellen als auch aus finanziellen Gründen in Frage gestellt. Die geplanten Stufenkonferenzen der Sekundarstufe I hatten nicht zu allgemeinpädagogischen Themen stattfinden können, da sie den Fachkonferenzen zur Erstellung der Stoffverteilungspläne im Rahmen der Umsetzung der neuen Bildungspläne zum Opfer gefallen waren.
Hier wird gleich auf mehrfache Weise deutlich, dass Hindernisse häufig eher in strukturellen Bedingungen und in der Überfrachtung mit Alltagsanforderungen als im fehlenden guten Willen der Praktiker vor Ort liegen.
Die neuen Zielsetzungen orientierten sich an den Ergebnissen der Evaluation des abgelaufenen Schuljahres. So setzte sich die Grundschule, die in drei Klassen erfolgreich den Klassenrat erprobt hatte, das Ziel, ihn im nächsten Jahr in allen Klassen einzuführen, die Beobachtungsstufe beschloss u.a., ihr Patenprogramm weiterzuentwickeln und eine Stufenkonferenz vor jeder Gesamtlehrerkonferenz einzuführen. Die Sekundarstufe nahm sich vor, eine eigene Bilanzkonferenz nach dem ersten Halbjahr durchzuführen und den Bereich "Soziales Lernen" auszuweiten, indem alle Schüler der Stufe "an mindestens einem Schulsprecher-, Streitschlichter- oder Sozialkurs" teilnehmen sollen.
Für diese Jahresziele wurden nach bewährtem Vorgehen konkrete Praxisschritte bestimmt: Wer macht was mit wem bis wann?
Das Protokoll der zweiten pädagogischen Jahreskonferenz hatte nun schon eine beeindruckende Form angenommen: Der umfangreiche Spiralhefter mit farbigen kartonierten Deckeln dokumentiert nicht nur alle Bilanz- und Zielprotokolle der drei Schulstufen, sondern das gesamte Tagungsmaterial mit Vorbereitungstexten und dem Vortrag von Dörte Schnell-Abis zum Konzept der Gesamtschule Fischbek. Hier spiegelt sich die Freude an den erreichten Zielen und eine beginnende Professionalisierung im Umgang mit der eigenen Schulentwicklung. Auch die noch offenen Fragen, in denen sowohl Entwicklungspotential als auch bisher nicht gelöste Probleme stecken, wurden festgehalten.
Bilanzierungskonferenzen im März 2005
Nach dieser positiven Entwicklung in den Jahren 2003 und 2004 erlitt die Fortführung der Jahreskonferenzen einen kleinen Einbruch. Es ist wichtig, die Gründe dafür herauszufinden.
Statt einer gemeinsamen Jahreskonferenz zur Steuerung des Schulentwicklungsprozesses im Mai hatten sich im Februar und März 2005 die Stufenkollegien gesondert zu Bilanzierungskonferenzen getroffen, auf denen die Jahresziele 2004/05 am Ende des ersten Halbjahres evaluiert wurden. Dabei wurde ausschließlich die Ebene der konkreten Maßnahmen zum Gegenstand der Beratungen. Die Maßnahmen wurden überprüft, indem sie alle klassen- und stufenbezogen einzeln abgefragt wurden. Dieses Vorgehen spiegelt sich auch in den Protokollen wieder; sie sind kurz und in Tabellenform gehalten. Gesamteinschätzungen, die daraus abzuleitende Neukonzeptionierung einer zukünftigen Strategie und die Formulierung von Jahreszielen waren nicht mehr möglich.
Die sich anbahnende "Tradition" der Steuerung des SE-Prozesses durch eine alljährliche Bilanz- und Zielsetzungskonferenz wurde im Schuljahr 05/06 teilweise unterbrochen. Die pädagogische Konferenz wurde in diesem Jahr schwerpunktmäßig für die Vorbereitung eines thematischen Sommerfestes "Eine Welt der Vielfalt" genutzt. Damit wurde ein ursprüngliches Teilziel realisiert - die Funktion der Steuerung der Gesamtentwicklung trat zeitweilig in den Hintergrund.
Aus den Protokollen der Stufenbilanzkonferenzen 2005 geht aber auch hervor, dass einiges angepackt und auch erreicht wurde - z.B. die Einführung des Klassenrats in der gesamten Grundschule oder die Fortbildung von 7 (!) von 40 KollegInnen für Streitschlichtung und das Konzept "Fit und stark" in der Sekundarstufe. Häufig springen dem Leser aus der Spalte "warum nicht?" jedoch Formulierungen entgegen wie "Praktikum, Zeitmangel", "kein Anleiter", "Fortbildung zur Mediatorin war zu zeitaufwändig", "zu wenig Lehrerstunden vorhanden" oder "häufige Lenkung der Lehrerin aufgrund von Zeitmangel", "wöchentliche Arbeit mit dem Programm häufig aus Zeitmangel schwierig", "Stufenkonferenzen wurden oft wieder verkürzt, so dass keine Zeit für einen Austausch da war", "Vorbereitung auf Abschlussarbeiten am Klassennachmittag, dadurch keine Zeit mehr für Klassenangelegenheiten". Andererseits wurden auch Lösungen vorgeschlagen: "Klassenlehrerstunden sollten dringend eingeführt werden", "eine Arbeitsgruppe sollte die Prüfungsthemen vorbereiten, nicht der betroffene Kollege", "Stundenentlastung", usw.
Hier wird sichtbar, dass die chronische zeitliche Überforderung durch die gewachsene Komplexität und durch das einseitig betriebswirtschaftlich basierte Hamburger Lehrerarbeitszeitmodell sowie durch zahlreiche Außenanforderungen seitens der Behörde den Kollegen den Blick für die Übersicht über ihre gesamte gemeinsame Tätigkeit und das eigene Ziel verstellte. Die selbst gewählte Aufgabe einer demokratischen Schulentwicklung schien zum belastenden Additivum zu den Alltagsanforderungen der Tätigkeit geworden zu sein, anstatt zum Bezugsrahmen, in den die Inhalte, die Strukturen und die Organisation des "normalen Betriebs" einzuordnen wären. Den Blick für letzteres gilt es durch eine neue PJK wiederzugewinnen. Der neue "Orientierungsrahmen Schulqualität" für Hamburger Schulen könnte aus dieser Perspektive nicht als weitere belastende Anforderung von oben empfunden, sondern im Gegenteil dazu genutzt werden, die für eine demokratische Schulentwicklung nötigen Gestaltungsräume neu in den Blick zu nehmen und selbstbewusst zu gestalten.