Deliberationsforum - Ein interdisziplinäres Projekt in der Sekundarstufe 1 (Berlin)
Durchführung bzw. Ablauf (inkl. Verantwortlichkeiten)
Welche Schritte kennzeichnen die Durchführung?
Themenfindung
Die Auswahl der Deliberationsfrage „Terrorismus in Deutschland / Ist Deutschland durch Terrorismus besonders gefährdet?“ erfolgte in einem langen, kreativen Prozess. Jeder Schüler konnte drei Themen zur Wahl einbringen. In Kleingruppen wurden anschließend die bevorzugten Themen ausgewählt.
Eine Liste an der Tafel visualisierte die Favoriten:
- Führerschein mit 16 Jahren
- Abschaffung der Wehrpflicht
- Einführung der Schuluniformen
- Umweltschutz
- Überqualifikation der Arbeiter in Deutschland wegen der Arbeitslosigkeit
- Abtreibung
- Terrorismus in den Medien
- Terrorismus
(Arbeitshilfe Schüler zur Themenfindung)
Die abschließende Diskussion fokussierte das Thema „Terrorismus“. Grundlage für die Themenwahl war im September 2004 das unmittelbar medial erlebte Massaker an einer Schule in Beslan, Russland. Dies war ein Ereignis, das besonders in einer exponierten Schule wie der John-F.-Kennedy-Schule große Betroffenheit unter den Schüler/innen ausgelöst hatte. Welcher Anstrengungen es bedurfte, dem Anspruch und Umfang des Themas gerecht zu werden, wurde den Schüler/inne/n aber erst in der konkreten Auseinandersetzung im laufenden Schuljahr bewusst. Eine Erfahrung, die sich für den Projektverlauf als sehr wichtig herausstellte. Die thematische Komplexität forderte von den 15-jährigen Schüler/inne/n eine hohe kognitive Leistung, sodass die Lehrer/innen stets zwischen dem pädagogischen Anspruch zu selbständigem Handeln und viel unterstützender Hilfe abwägen mussten.
Im ersten Schritt beschäftigte sich die Klasse mit unterschiedlichen Aspekten des weltweiten Terrorismus und untersuchte die Länder, in denen terroristische Anschläge verübt worden waren. Die Flugzeugentführungen und Anschläge in den USA am 11. September 2001 wurden ein zentraler Themenschwerpunkt. Die Überlegungen konzentrierten sich dann zunehmend auf Deutschland und dessen Rolle im internationalen Terrornetz. Darin spiegelte sich die persönliche Betroffenheit gerade von Schüler/inne/n mit amerikanischem Hintergrund und deren doppelte Beziehung zu den USA und zu Deutschland wider. Die Frage, in wieweit Deutschland auch ein besonderes Ziel für terroristische Anschläge sein könnte wurde dann zur Deliberationsfrage: „Ist Deutschland durch Terrorismus besonders gefährdet?“
Erarbeitung von Hintergrundinformationen
Die Lehrer/innen leiteten aus den Schülerdiskussionen vier Themenfelder für Gruppenbearbeitungen ab:
- Kulturelle und religiöse Hintergründe (Islam versus Islamismus)
- Integrationspolitik in Deutschland/Berlin
- Polizei und Gesetze in Deutschland
- Soziale und ökonomische Hintergründe des Terrorismus
Die Schüler/innen entschieden selbst ihre Gruppenzugehörigkeit und Themenwahl. Die Arbeit in diesen Themengruppen umfasste ca. zwei - drei Monate. Neben Recherchen zu Hintergrundinformationen waren zusammenfassende Texte und Schaubilder zu erarbeiten; die Zwischenergebnisse wurden der Klasse regelmäßig präsentiert, damit gemeinsames Wissen gesichert werden konnte und ebenso gegenseitige Arbeits- und Problemberatung stattfand.
Folgende Inhalte wurden in den Gruppen recherchiert:
- Kulturelle und religiöse Hintergründe (Gruppe I)
Analyse von Korantexten, mit denen islamistische Muslime terroristische Anschläge rechtfertigen - Kulturelle und religiöse Hintergründe (Gruppe II)
Ursachen der Entstehung und Förderung des Terrors; Anwerbungsstrategien für junge muslimische Männer unter Nutzung ihrer perspektivlosen Lebenssituation in verschiedenen Ländern; Merkmale muslimischer Kultur - Integrationspolitik in Deutschland/Berlin
Merkmale erfolgreicher und misslungener Integration; Probleme der Ghettoisierung in Berliner Bezirken; Sprachproblematik der Migrantenfamilien; Integrationsmaßnahmen am Beispiel des Bezirks Neukölln; Haltungen politischer Parteien. Können Fehlentwicklungen / Misserfolge in der Integrationspolitik die Entwicklung von Terrorismus befördern? - Polizei und Gesetze in Deutschland
Gesetze und Gründe für Gesetzesänderungen oder neue Gesetze; Sicherheitsorgane und Sicherheitsmaßnahmen; Aufgaben des Bundeskriminalamtes (BKA); Verbindungen zu und Abhängigkeiten von ausländischen Sicherheitsbehörden - Soziale und ökonomische Hintergründe des Terrorismus
Sozio-kulturelle Verankerung und Einnahmequellen des internationalen Terrornetzwerkes; Geldwäsche; Praxis der Sozialhilfe für Ausländer; Tendenzen und Auswirkungen des Rechts- und Linksextremismus in Deutschland.
Methodentraining
Die Lehrer/innen trainierten im Verlauf der Monate, in denen die Schüler/innen ihre Hintergrundinformationen erarbeiteten, Arbeitstechniken für strukturierte Recherche und Auswertung der Materialien (Orientierung für Quellensuche und -auswahl), Interview-, Moderations- und Präsentationsverfahren. Als besonders nützlich beurteilten hier die Schüler/innen anschließend das Erlernen von:
- Interviewtechniken
- Clustern
- Mindmapping
Interviewtechniken:
Da auf dem Podium während des Deliberationsforums Fachexperten und Politiker diskutieren sollten, mussten spezielle Fragetechniken für unterschiedliche Situationen erlernt werden. So zum Beispiel Anfragen in Einladungsbriefen, Fragen bei Diskussionen, die zu informativen Antworten anregen und moderierende Fragen, die Diskussionen zusammenfassen oder gegenüber stellen. Besonders hilfreich war hier, dass die Mutter eines Schülers als professionelle Journalistin die Schüler/innen sehr praxisnah in die Grundprinzipien des Interviewführens einführen konnte.
Clustern und Mindmapping:
Die in den verschiedenen Themengruppen gesammelten Informationen und erarbeiteten Erkenntnisse wurden in Stichworten auf Pinnwänden notiert und mit Pfeilen die Beziehungen markiert. Die Verfahren halfen, die Vielzahl der Informationen zu sortieren und zu strukturieren. Diese Visualisierungen unterstützten die Präsentationen der Arbeitsgruppen.
Vorbereitung des Publikums (Mitschüler/innen der parallelen 9. Klassen) auf das Diskussionsforum und das Feedback
Das zentrale Anliegen eines Deliberationsforums ist es, beim Publikum Wissenszuwachs und Meinungsbildung zu bewirken und zu dokumentieren (evaluieren). Die Schüler/innen der Klasse 9c mussten also aus ihren erarbeiteten Hintergrundinformationen auch eine komprimierte und für die inhaltlich unvorbereiteten Mitschüler/innen des Publikums (parallele 9. Klassen) verständliche Vorinformation erarbeiten, die diese als Infoblatt zu Beginn des zweitägigen Forums erhielten. Die Vorinformation sollte dem Publikum das Verstehen der Experten-Politiker-Diskussionen und ebenso eine aktive Beteiligung (Fragen stellen, Meinungen formulieren) an der Diskussion ermöglichen (Info-Papier zum Deliberationsforum „Terrorismus“).
Dieses Informationsblatt für die Schüler/innen des Publikums erwies sich in doppelter Hinsicht als zu kompliziert: Es war inhaltlich zu komplex und zu komprimiert. Es war zudem eine Überforderung, diese Informationen erst unmittelbar vor Beginn des Forums zu erhalten und in sehr kurz bemessener Zeit lesen und aufnehmen zu müssen. Für ein nächstes Deliberationsforum ist deshalb geplant, die Hintergrundinformtionen differenziert nach Themengruppen und persönlich durch Vertreter der Gruppen in den Publikums-Klassen vorzustellen; zudem sollte diese Vorinformation bereits in den Tagen vor dem Deliberationsforum erfolgen.
Außer dem Infoblatt war ein Evaluationsbogen für die Feststellung von Wissen und Meinungen bzw. deren Veränderungen durch das Forum zu erarbeiten. Die Wissensfragen testeten die Kenntnisse einzelner Fakten, die Meinungsfragen sollten Auskunft über emotionale Einstellungen zum Thema geben (Vorbereitung Schüler für die Erarbeitung des Questionnaire)
(Evaluationsbogen (Questionnaire)).
Die Schüler/innen des Publikums erhielten diesen Evaluationsbogen, der ihren Wissens- und Meinungsstand abfragte, zu Beginn der zweitägigen Forumsveranstaltung. Anschließend erhielten sie das Informationsblatt zur inhaltlichen Vorbereitung der Diskussionsforen. Zum Abschluss des zweitägigen Forums mussten die Schüler/innen des Publikums den Evaluationsbogen erneut bearbeiten. Die Schüler/innen der 9c hatten also auch eine sehr aufwendige und anspruchsvolle Auswertungsarbeit bei dem Vergleich der Evaluationsmaterialien zu leisten.
Um ehrliche Antworten zu erhalten, waren alle Evaluationsbogen anonymisiert. Damit der erste und der zweite Bogen aufeinander bezogen werden konnte, wurde jedem/r Schüler/in ein individueller, geheimer Erkennungscode gegeben, der keinen Rückschluss auf die konkrete Person zuließ, sondern nur der Identifikation der zusammengehörenden Evaluationsbogen diente („matching“).
Ablauf des 2tägigen Forums am 25. und 26. Mai 2005
1. Tag:
- Ankunft der teilnehmenden Publikumsgäste und Einteilung der einzelnen Deliberationsgruppen (ca. 10 Schüler/innen pro Gruppe)
- Ausfüllen des Evaluationsbogens durch die Schüler/innen der 9. Klassen
- Lesen des Informationsblattes
- Diskussionsrunde mit Experten zu folgenden Themen:
- Islam: Johann Büssow, Freie Universität Berlin
- Terrorismus: Mark Koumans, American Embassy
- Innere Sicherheit: Herr Zuch, Landesamt für Verfassungsschutz
- Internationale Zusammenarbeit: Susanne Welter, Auswärtiges Amt
- Menschenrechte: Dr. Wolfgang Heinz, Deutsches Institut für Menschenrechte
- Religion: Cornelia Oswald, Religionspädagogin - Jeder Experte gab ein ca. 10minütiges Statement ab; anschließend Nachfragen unter Beteiligung des Publikums (90 Minuten)
- Aushandlungen in den Deliberationsgruppen, moderiert von jeweils einem/r Schüler/in der Klasse 9c und einem der Experten (55 Minuten)
- Abschlussplenum: Jede Deliberationsgruppe präsentiert einen vorher verabredeten Ergebnissatz
2. Tag:
- Begrüßung
- Diskussionsrunde mit Politikern:
Hans-Ulrich Klose, SPD, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses
Roland Gewalt, CDU, Ausschuss für Angelegenheiten der EU
Michael Knoll, Bündnis 90/ Die Grünen, Wissenschaftlicher Referent des Bundesaußenministers J. Fischer
Karin Hopfmann, PDS Berlin - Jede/r Politiker/in hielt ein ca. 2minütiges Statement zu den Deliberationsfrage des Forumthemas. Die moderierenden Schüler/innen hatten gezielte Nachfragen, bezogen auf die politischen Positionen der Parteien, vorbereitet. Auch aus dem Publikum konnte nachgefragt werden. (105 Minuten)
- Aushandlung in den Deliberationsgruppen, moderiert durch ein/n Schüler/in (55 Minuten)
- Abschlussplenum: Jede Deliberationsgruppe präsentiert einen vorher verabredeten Ergebnissatz
- Ausfüllen des Evaluationsbogens von den Schüler/innen des Publikums.
(Schülereinladung an Politiker)
(Programmplan Forum)