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BLK-Programm - Demokratie lernen & leben: Durchfuehrung

Materialien

Demokratische Unterrichtsentwicklung: Demokratielernen im Simulationsspiel "Dorfgründung" (Hamburg)

Durchführung bzw. Ablauf (inkl. Verantwortlichkeiten)

Welche Schritte kennzeichnen die Durchführung?

Ablauf

Das Modell wurde zunächst mit einem Oberstufenkurs des 3. Semesters und dem Lehrer Rainer Güttner getestet und zugleich wissenschaftlich begleitet. Die Interaktionen der Gruppe wurden im Video aufgezeichnet. Schon beim ersten prototypischen Durchgang an einer Gesamtschule hatte sich die Idee bewährt. Zugleich stellte sich die Frage, ob dieses Mittel zur Konstituierung von politischem Bewusstsein nicht sinnvollerweise schon in jüngeren Jahrgängen einzusetzen wäre – anstatt erst im Alter der Wahlmündigkeit. So wurde die "Dorfgründung" auch in einer 10. Klasse durchgeführt. Auch hier war das Projekt erfolgreich. Andreas Petrik konstruierte zwei unterschiedliche Varianten für die verschiedenen Stufen.

Während im darauf folgenden Schuljahr das Zentralabitur eingeführt wurde und somit einerseits die weitere Durchführung des Projekts in der Oberstufe fraglich schien, entstand etwa zeitgleich das neue Fach Politik-Gesellschaft-Wirtschaft (PGW), das das alte Fach Sozialkunde ablöste und den Beginn des Politikunterrichts von der 9. in die 8. Klasse vorzog. Dies ermöglichte andererseits, den Neuanfang im Fach Politik für eine Unterrichtsneuentwicklung zu nutzen, weil es neue Lehrpläne gab, die für eine curriculare Konkretisierung noch offen waren. Die Fachkonferenz entschied also, das Projekt im 8. Jahrgang anstatt in der Oberstufe zu etablieren, "weil wir hier die Chance hatten, den Einstieg in den Politikunterricht über dieses Thema zu nehmen", erläutert Rainer Güttner.

 "Diesen Anfang ganz schülernah an der Persönlichkeit zu vollziehen, ist für eine   Einstiegsphase besonders reizvoll. Zunächst waren wir skeptisch bei der Frage, ob  die Schüler dafür nicht noch zu jung wären wegen des erforderlichen Abstraktionsvermögens. Unsere Erfahrung nach der ersten Runde zeigte aber, dass unter  Verzicht auf einige Aspekte, die man in der 10. und 13. Klasse berücksichtigen  kann, das Spiel in der 8. Klasse durchaus realisierbar und sinnvoll ist."

Nach mehreren Durchgängen hat sich inzwischen bestätigt, dass das Projekt vor allem dafür geeignet ist, Interesse an Politik zu wecken und ein anschlussfähiges Verständnis für politisches Geschehen zu ermöglichen. Jeder nachfolgende Unterricht kann dann mit seinen Abstraktionsstrategien auf diese konkreten Erfahrungen der Schüler mit Politik rekurrieren.

Die Videokamera ist fester Bestandteil des Projekts

Die Funktion der Videoaufzeichnung ist die Rückspiegelung des Diskussionsverhaltens der Schüler, die nötig ist für das Training der Selbstreflexion. Für Schüler und Eltern gab es häufig ein Problem mit der Kamera: Für die Eltern stellte sich das Problem eher als Frage des Datenschutzes, also wie die Aufzeichnungen anschließend weiterverwendet würden. Hier musste geklärt werden, dass sie zum einen für die unmittelbare Verwendung im internen Projektzusammenhang gedacht waren, zum anderen mit den üblichen Namensänderungen ausschließlich im Zusammenhang der wissenschaftlichen Arbeit Andreas Petriks und in der Lehrer(fort)bildung eingesetzt würden. Dazu war die Einholung einer schriftlichen Einverständniserklärung der Eltern nötig. Für einige Schüler trat die Beobachtung durch die Kamera jedoch als eine Hemmung auf, insbesondere bei solchen SchülerInnen, die sowieso schon Schwierigkeiten hatten, sich in einer größeren Gruppe zu äußern. Dazu berichtet Andreas Petrik:

 "Mein Ergebnis der Evaluation dieser Dorfgründung war: Die Kamera zu akzeptieren, bedeutet die Bereitschaft und eine positive Erfahrung, sich in die Öffentlichkeit – die Miniöffentlichkeit – des Dorfes einzubringen. Gelingt dies – was  bei den meisten Schülern zunehmend der Fall ist –, dann stört die Kamera überhaupt nicht mehr."

Die Schülerin Mandy bestätigt:

 "Es gab so eine Runde, die nannte sich Fishbowl, und da mussten wir unsere  Meinung immerzu äußern, und da gab's dann wirklich Streit und Diskussionen, die  schon ein bisschen heftiger waren, weil wir uns da entweder in Positionen hineinversetzen mussten, die wir gar nicht vertraten, oder einfach, weil wir da nicht  unsere Meinung preisgeben konnten. Da hat man dann gar nichts mehr mitbekommen von der Kamera, sondern hat einfach nur gestritten. Aber es war gut!"

Die Lehrerrolle wird neu definiert

Der Lehrer/die Lehrerin ist nicht in die Simulation involviert. Er/sie hat in der Regel die Rolle eines Prozessbeobachters – oder in der Vorstellung der Schüler die eines Journalisten. Die Schüler im Corveygymnasium definieren ihn als "weisen Baum", der sich nicht von sich aus bewegen kann, zu dem man sich aber hinbewegen kann. Die Lehrerin greift in der Regel nicht in den Prozess ein, es sei denn, sie wird um Beratung gefragt. Wenn sie doch interveniert, dann muss das sehr besonnen und begründet geschehen in Form eines didaktischen Impulses. Wie ein solcher Impuls aussehen kann, erklärt Andreas Petrik:

 "Es ist eine offene Lernumgebung, d.h. der Lehrer setzt den Rahmen – 'da ist ein  Dorf, da sind Häuser, ihr habt ein bestimmtes Einkommen' – und er gibt immer  wieder an bestimmten Stellen Aufgaben rein, die gelöst werden sollen. Das kann  die Aufgabe sein: 'So, wir sind jetzt am Anfang des Dorfes, ihr müsst jetzt überhaupt erst mal finden, wie ihr weiter leben wollt.' Das kann aber auch eine Vorstellungsaufgabe sein: 'Stellt euch vor, jemand schlägt vor, wir haben jetzt den  strengen Leiter, der erst mal alle Geschicke in die Hand nimmt, weil euch das Geld  ausgeht. Wie steht ihr dazu?' Es sind solche Problemsituationen, die gelöst werden  müssen."

Wenn diese Situationen nicht sowieso von selbst entstehen, oder wenn sich die Gruppe in einer Situation verfahren hat, aus der sie nicht selbständig herausfindet, dann sind solche Impulse nötig. Der Lehrer muss ein Gefühl dafür entwickeln, einerseits nicht zu früh einzugreifen – und damit Lernprozesse abzuschneiden -, andererseits in einer Situation, aus der die Gruppe nicht ohne Intervention von außen herausfindet, rechtzeitig einen richtigen Impuls zu setzen, damit das Dorfprojekt nicht aufgegeben wird, weil die Gruppe zerbricht.

Simulation und Realität

Das Instrument der Dorfsimulation funktioniert nur, wenn die Schülerinnen einen persönlichen Sinn darin finden. Der Mehrheit gelingt das meistens, z.B. bei der Frage, wie Entscheidungen getroffen werden sollen. Das ist keine fiktive, sondern eine echte Frage, denn es müssen echte Entscheidungen getroffen werden – wenn auch für ein Spiel – z.B. "die Frage, ob ein Kollektiv basisdemokratisch abstimmt, ob es einen Rat gibt, der sich zurückzieht, oder den weisen Herrscher, die weise Herrscherin".
Die Simulation ist ein Instrument dafür, Probleme in Schlüsselsituationen auftauchen zu lassen, die im Schüleralltag real noch nicht auftauchen würden. Diese Probleme werden jedoch gebraucht, um an ihrer Bearbeitung die Lösungsalternativen und die Lösungsstrategien und –muster selbst auffinden zu können, anstatt sie sich nur äußerlich kognitiv anzueignen.
 Die Schüler entdecken hierbei nicht nur die ihnen jeweils latent bereits eigenen ideologischen Grundüberzeugungen – anarchistisch, sozialistisch, liberal, konservativ –, die sich in ihrer fiktiven Praxis manifestieren, sondern sie erleben auch den mühsamen Prozess, Instrumente und Formen für den Einigungsprozess gemeinsam festzulegen und mit ihnen zu gemeinsam geteilten Lösungen der widersprüchlichen Interessen und Vorstellungen zu gelangen. Dieser Aushandlungsprozess der SchülerInnen ist real. Sie generieren in diesem Prozess die besondere Variante ihrer eigenen Herrschaftsform und lernen in der Reflexion ihrer Praxis grundlegende politische Ansätze und deren Möglichkeiten und Grenzen kennen. Nicht zuletzt entwickeln die Schüler als Kollektiv sowie individuell im Laufe des Spiels zunehmend Diskussions- und Verhandlungskompetenz.

Das Spiel fasziniert die SchülerInnen und ist deshalb im Gegensatz zu traditionellen kognitiven Vermittlungsansätzen hervorragend geeignet, in Politiklernen einzuführen und Interesse an politischen Fragen zu wecken.
 Die Unterrichtsmaterialien und didaktischen Hinweise sind auf einer CDRom beim Autor erhältlich. Verschiedene Adressaten – Sekundarstufe I, Sekundarstufe II – sowie verschiedene Formate – 20 oder 40 Stunden – sind möglich.
Weitere einführende Informationen im Netz http://www.li-hamburg.de/fix/files/doc/dorfgruendung-hms-heft-06-04-6.pdf und ausführlich in den Materialanhängen dieses Praxisbausteins.

Reflexivität

Es ist immer wieder nötig, an bestimmten Stellen der Dorfentwicklung eine Reflexionsphase einzuschieben, die den Transfer von der konkreten Erfahrung zur verallgemeinernden Erkenntnis leistet.

Orientierungsmodell – Theorien

Historizität

Obwohl der Ansatz explizit die Voraussetzung macht, dass es sich bei den Erfahrungen, die die Schüler machen, und bei den Problemlösungen, die sie dabei finden, um Archetypen handelt, versucht das Modell – zumindest für die Version der Oberstufe – die Dimension der Historizität zu berücksichtigen, indem es die Genese ideologischer Modelle und politischer Konzepte (Marx, Smith, Burke, Proudhon) zum Reflexionsgegenstand im Projekt macht. Jedoch "wird das nur kurz angespielt, denn es bleibt immer im Dorf", erläutert Petrik, "es wird kein Geschichtsunterricht eingeschoben – das könnte man in einem fächerübergreifenden Projekt machen, das haben wir aber bewusst nicht gemacht."