Demokratische Unterrichtsentwicklung: Demokratielernen im Simulationsspiel "Dorfgründung" (Hamburg)
Kontext, Begründungen, Ziele
Warum und vor welchem Hintergrund ist der Baustein eingeführt worden?
Der Ansatz folgt dem didaktischen Konzept des "genetischen" Lernens nach Martin Wagenschein (1896-1988, Didaktiker der Naturwissenschaften; vgl. Genetisches Prinzip Kurzbeschreibung). Im Simulations-Setting des Dorfgründungs-Projekts wandern die Schüler einer Klasse in ein fiktives von den bisherigen Einwohnern aufgegebenes Dorf in den Pyrenäen aus, in dem sie sich als Gruppe eine neue Existenz aufbauen müssen. Ausgestattet mit unterschiedlichen Geldvermögen als Mitgift, müssen sie in der vorgefundenen Anlage des Dorfes mit unterschiedlich großen Häusern und Land eine neue Gesellschaft aufbauen, deren ökonomische, politische und juristische Strukturen sie selbst gemeinschaftlich bestimmen. Die jeweils in der fiktiven Lebenspraxis auftauchenden Entscheidungsaufgaben (Häuserverteilung, Arbeitsteilung, Gesetzgebung u.a.) und die dabei notwendig auftretenden Differenzen und Konflikte bieten den Stoff für die Entdeckung grundlegender gesellschaftlicher Probleme, die gemeinsam politisch gelöst werden müssen.
Allgemeine Beschreibung der Schule
Das Gymnasium Corveystraße liegt im Hamburger Stadtteil Lokstedt mit vorwiegend kleinbürgerlicher und bildungsbürgerlicher Bevölkerung. Als Besonderheit im Schulprofil führt es einen bilingualen Zweig Deutsch-Italienisch. Eine Vielfalt an Arbeitsgemeinschaften – v.a. in Musik, Theater und Sport – verweist auf ein reichhaltiges Schulleben über den Unterricht hinaus. Teilweise werden Arbeitsgemeinschaften auch schon von Schülern geleitet. Die Schule ist auf dem Weg zu einer Ganztagsschule. Schon vor der Teilnahme am BLK-Programm "Demokratie lernen & leben " begann die Schule mit der Entwicklung einer demokratischen Schulkultur:
So ist es seit Jahren Tradition, dass die Klassen- und SchulsprecherInnen zusammen mit den BeratungslehrerInnen an einem mehrtägigen Qualifizierungsseminar teilnehmen. Ein Produkt der entwickelten Schülergremienarbeit ist ein von der Schulleiterin und einer Schülersprecherin gemeinsam verfasster Artikel "Schulentwicklung und die Arbeit des Schüler(innen)rats" (Kathrin Jakstat und Christel Jäger, in: Hamburg macht Schule 5/2002). Zweimal (2001 und 2002) sind SchülerInnen der Schule Bertini-Preisträgerinnen geworden – mit der Initiative und Organisation eines Projekttags "Was heißt hier fremd" und dem "FutureBus", http://www.futurebus.de/, einer mobilen Ausstellung gegen Rechtsextremismus. Derzeit bemüht sich eine SchülerInnen-Initiative, die Schule an das Netzwerk "Schule ohne Rassismus – Schulen mit Courage" http://www.schule-ohne-rassismus.org/ anzuschließen. Die Schülerratsseite der Schulhomepage ist reichhaltig und lebendig gestaltet; außerdem gibt es noch eine Seite der Schul-community, "Corvey.net", in die neben Informationen und Schülermaterialien auch ein Forum und ein Chat eingebunden sind. Zusätzlich zum üblichen Betriebspraktikum zur Berufsorientierung in der Mittelstufe absolvieren die SchülerInnen der 11. Klasse seit Jahren das "Gesellschaftspraktikum", bei dem es in erster Linie um Verantwortungslernen durch Mitarbeit in sozialen oder kulturellen Einrichtungen der Stadt geht.
Für diese Schule fungiert das BLK-Programm nicht als Initiator und Motor sondern als Unterstützung eines laufenden demokratischen Entwicklungsprozesses.
Unmittelbarer Kontext, Begründungen
Als das Corvey-Gymnasium BLK-Programm-Schule wurde, nutzten die Kollegen diesen Zusammenhang als Möglichkeit, neben dem Ausbau der schon entwickelten Ansätze zur demokratischen Schul-"Innenpolitik" und -"Außenpolitik" neue Aufgaben im Bereich der Unterrichtsentwicklung anzugehen. Die Politiklehrer waren vor allem daran interessiert, einen Einstieg in das neue Fach Politik-Gesellschaft-Wirtschaft (PGW) der Mittelstufe zu finden und in der Oberstufe das Theoriewissen (etwa Politikmodelle oder Demokratietheorien) der Gemeinschaftskunde-Kurse mit Praxiserfahrung der Schüler zu vermitteln. Andreas Petrik, damals wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg und jetzt Lehrer am Corvey-Gymnasium, erläutert im Interview sein Motiv für die Erfindung des Dorfgründungsprojekts:
"Politik ist ein ungeheuer schwieriger Gegenstand. Das sind Prozesse, in denen Menschen Interessen aushandeln mit ganz vielen Werten, die eine Rolle spielen, ganz vielen komplizierten Fakten. Und diese Verhandlungsprozesse verständlich zu machen, gelingt uns im Unterricht nur sehr wenig (...) Wenn man Tagesthemen sieht oder Politikerreden hört, versteht man nicht wirklich, was Politik ist, wie eine Entscheidung zustande kommt und warum wer welche Positionen vertritt. Man versteht manchmal nicht einmal so richtig, was das für Positionen sind – selbst Erwachsene nicht."
Petrik entwickelte aus der anfänglichen Robinsonade-Idee das vorliegende Dorfgründungsprojekt für Schüler, die während der Simulation einer Gesellschaftsneugründung in der Reflexion ihrer eigenen Tätigkeit verstehen lernen, "warum wer welche Positionen vertritt", "wie eine Entscheidung zustande kommt" und "was Politik ist".
Es geht jedoch nicht nur darum, dass die Schüler lernen, Politik als Phänomen zu durchschauen – also einen kompetenten Beobachterposten einzunehmen –, sondern auch darum, Bereitschaft und Kompetenzen für praktisches demokratisches Engagement zu erwerben.
"Schülerinnen und Schüler sollen lernen, ihre Wertorientierungen als Ausdruck politischer Ordnungsvorstellungen zu verstehen, sie argumentativ zu unterfüttern, kritisch zu prüfen und mit Andersdenkenden demokratisch auszuhandeln. (...) Dadurch, dass selbst in einer Kleingruppe von 25 bis 30 Menschen zumeist nur unter großen Schwierigkeiten und nach vielen Machtkämpfen ein demokratischer Umgang etabliert werden kann, wird Demokratie als eine menschheitsgeschichtliche Errungenschaft begreifbar, die nicht nur historisch mühsam erkämpft wurde, sondern auch im Alltag immer wieder hergestellt werden muss." (Petrik, Andreas, in: gesagt. getan. Demokratiepädagogik in Hamburg, LI-Dokumentation
2006, S.43)
In Zusammenarbeit mit dem Demokratiegruppensprecher der Schule, Rainer Güttner, der als Politiklehrer das Modell erstmals im Unterricht eines Oberstufenkurses testete, konnte Andreas Petrik seinen Ansatz in der Praxis überprüfen und das Modell noch genauer an die Praxiserfordernisse anpassen.