Politik vor Ort (Rheinland-Pfalz)
Kontext, Begründungen, Ziele
Warum und vor welchem Hintergrund ist der Baustein eingeführt worden?
Ausgangslage
„Politikverdrossenheit, Null Bock, ich kann ja doch nichts ändern“, so oder ähnlich lauten die Stichworte im Zusammenhang von Politik und Jugend. Dieses gesellschaftliche Phänomen offenbarte sich auch in der BBS Bingen und hier vor allem im Sozialkundeunterricht. Wie die Erfahrungen der letzten Jahre gezeigt haben, kann mit traditionellem Unterricht diesbezüglich nur wenig in dem Verhalten von Jugendlichen verändert werden. Hinzu kamen die Klagen der Ausbildungsbetriebe über zunehmendes politisches Unverständnis ihrer Auszubildenden.
Deshalb geht die BBS Bingen seit einigen Jahren neue Wege. Seit 1999 findet in Rheinland-Pfalz eine neue und bundesweit bisher einmalige Form der Lernortkooperation statt, an der neben der Berufsbildenden Schule Bingen mehrere Unternehmen (Fa. Boehringer Ingelheim Pharma KG, Sparkasse Rhein-Nahe, Volksbank Alzey, Sparkasse Alzey) und der rheinland-pfälzische Landtag beteiligt sind. Ziel dieser Zusammenarbeit ist es, das handlungsorientierte und praxisnahe Projekt als festen Bestandteil in die duale Ausbildung der Unternehmen zu integrieren, um so den Auszubildenden die Möglichkeit zu geben, Einblicke in die Arbeit des Landtages zu gewinnen, Verständnis für politische Ereignisse und Zusammenhänge zu entwickeln und politisches Interesse zu wecken. Damit können auch möglicherweise bestehende Vorurteile gegenüber Politik, Politikern und Institutionen der parlamentarischen Demokratie abgebaut und die Jugendlichen zu einem eigenen kritischen und differenzierten Urteil befähigt werden.
Dass dies notwendig ist, wurde auch beim Besuch der Enquete-Kommission „Jugend und Politik" des Landtags Rheinland-Pfalz im Januar 2005 in der Diskussion mit den Beteiligten (Vertretern der beteiligten Unternehmen, Auszubildenden und Fachlehrern der BBS Bingen) über die an der BBS Bingen durchgeführten Projekte und die daraus resultierenden Erfahrungen deutlich.
So stellten die Beteiligten fest, dass solche Veranstaltungen zwar sehr sinnvoll sind, da man hier mit Politik direkt konfrontiert wird und hautnah spürt, wie Politiker arbeiten und Entscheidungsprozesse funktionieren. Andererseits wurde auch offen Kritik geübt in Äußerungen wie:
„Ich habe das Gefühl nichts zu erreichen."
„Bis sich etwas ändert, dauert es viel zu lange."
„Die Sprache der Politiker ist schwer verständlich."
„Die Themen der großen Politik sind doch nichts für mich."
Es wurde nach mehreren Seminaren dieser Art deutlich, dass zwar auf der einen Seite durch den handlungsorientierten Ansatz des Projektes Politikinteresse und auch ein verbessertes Politikverständnis bei den Jugendlichen geweckt wurde, andererseits aber die politischen Inhalte und Handlungsweisen sehr weit vom täglich erlebten Lebenshorizont der Jugendlichen entfernt waren.
Es lag daher nahe, den auf der landespolitischen Ebene erprobten Ansatz auf die kommunalpolitische Ebene zu übertragen, die näher an der Lebens- und Erfahrungswelt der Jugendlichen ist und diese direkt betrifft.
Leitbild und Schulprogramm
Auslöser für die Teilnahme der BBS Bingen an dem Modellprogramm Demokratie lernen & leben war das Konzept der Schulentwicklung. Seit dem Jahre 2001 besitzt die BBS Bingen ein Leitbild, in dem es u. a. heißt:
Als Berufsbildende Schule
- sind wir Partner von ausbildenden Unternehmen, Innungen, Kammern und Auszubildenden
- vermitteln wir allgemeine und berufliche Kompetenzen.
Der Umgang mit allen am Schulleben Beteiligten wird bestimmt durch
- Respekt vor der Persönlichkeit anderer, Offenheit und eine positive Grundhaltung
- Transparenz unserer Entscheidungen
- Verantwortung und Freude an der persönlichen Leistung
- klare Absage an Gewalt und Diskriminierung
- Toleranz gegenüber anderen Religionen und Kulturen.
Auf diesem Leitbild aufbauend möchte die Schulgemeinschaft der BBS Bingen die Chance zu einer demokratischen Weiterentwicklung der Schulkultur wahrnehmen und den bereits eingeschlagenen Weg fortsetzen.
Ziele bei der Entwicklung
Ausgehend von dem Problem des politischen Desinteresses bei vielen Jugendlichen beschloss die BBS Bingen die Schülerinnen und Schüler durch projekt- und handlungsorientierte Angebote für politische Prozesse in einer demokratischen Gesellschaft zu sensibilisieren.
In dem Projekt "Politik vor Ort" soll das politische Interesse der teilnehmenden Jugendlichen geweckt und ihr Verständnis (kommunal-)politischer Entscheidungen, ihrer Voraussetzungen und Zusammenhänge gefördert werden. Dabei werden einerseits Informationen über die Arbeit kommunalpolitischer Institutionen, über die Strukturen der Verwaltung und die Aufgaben ihrer Leitungsorgane sowie über die Mitwirkung an jugendgerechten Formen der Partizipation auf kommunaler Ebene vermittelt.
Andererseits wird durch die Teilnahme an Stadt- bzw. Gemeinderats- oder Ausschusssitzungen und durch Gespräche mit Abgeordneten ein Blick hinter die Kulissen ermöglicht. Und schließlich werden die dabei gewonnenen Erfahrungen und Einsichten handlungsorientiert im Rollenspiel umgesetzt und dabei die Funktionsweise von Demokratie im unmittelbaren Nahraum erlebbar gemacht.
Ziele für die Teilnehmenden im Einzelnen
- Die Auszubildenden erlangen Deutungs- und Orientierungswissen bezüglich kommunaler politischer Strukturen, Handlungs- und Entscheidungsprozesse.
- Die Auszubildenden erfahren Politik als konkreten Gegenstand ihres täglichen Lebens (dies auch, da berufliche Ausbildung, Schule und Politik direkt miteinander "verbunden" werden).
- Vorurteile gegenüber den vermeintlich handlungsunfähigen Politikern werden abgebaut, da Auszubildende am "eigenen Leibe" erfahren, dass "Demokratie" (d. h. die Aushandlung von Beschlüssen und Kompromissen, die Pflege einer Diskussionskultur, die Kenntnis und Einhaltung der Regularien z. B. beim Abstimmungsprozedere etc.) gar nicht so einfach zu realisieren ist.
- Hemmschwellen gegenüber der Politik werden abgebaut, da Auszubildende durch persönlichen Kontakt Politiker als "normale Menschen" erleben.
- Jugendgemäße Methodenvielfalt weckt ein verstärktes Interesse für Politik.
- Kommunikative Kompetenzen werden angewendet und verstärkt durch Gespräche mit Experten vor Ort.
- Politische Handlungskompetenz wird u. a. durch Rollenspiele zu kommunalpolitischen Themen entwickelt.
- Medienkompetenz wird angewandt durch die Nutzung des Internet und anderer Medien als Recherche- und Präsentationsmedien.
- Jugendliche erleben und erfahren demokratische Umgangsformen praktisch und lernen sie adäquat einzusetzen.
- Sozial- und Teamkompetenz wird in den überwiegend handlungs- und gruppenorientierten Aktivitäten gefördert.
- Durch den Wechsel des Lernortes wird die Motivation gefördert.
- Es werden Interdependenzen zwischen Kooperationspartnern über den Schulalltag hinaus erkannt und für spätere Aktivitäten nutzbar gemacht.
Ziele für die Schule
- Der "demokratische Geist" in der Schule wird gestärkt und auf eine breitere Basis gestellt.
- Es wird eine Basis zur Weiterentwicklung einer demokratischen Schule geschaffen.
- Damit trägt das Projekt auch zur Gewaltprävention bei.
- Das Schulprofil gegenüber den Partnern und in der Öffentlichkeit wird (weiter-) entwickelt.
- Das Prinzip der Lernortkooperation als Kernelement des pädagogischen Konzepts der Schule wird stabilisiert und ausgebaut.
- Verstärkte Teamentwicklung wird praktiziert.
- Lernfeld und Fächer übergreifende Zusammenarbeit wird ermöglicht.
- Zur Unterstützung der Nachhaltigkeit wird eine partizipative Unterrichtskultur als flankierende Maßnahme aufgebaut.
Ziele der Kooperationspartner
- Es wird ein gesellschaftlicher Beitrag zur Heranbildung mündiger Staatsbürgerinnen und Staatsbürger geleistet.
- Damit wird erreicht, dass die Auszubildenden als verantwortungsbewusste Mitarbeiter auf einem höheren Verständnisniveau und mit größerem Engagement im beruflichen Bereich tätig werden können.
- Die Selbstständigkeit der Auszubildenden wird dabei gefördert.
- Es wird die Identifikation der Jugendlichen mit der Region auf der kommunalpolitischen Ebene unterstützt.
- Partizipationsmöglichkeiten an Prozessen der kommunalen Verwaltung werden aufgezeigt.
- Jugendliche werden im Hinblick darauf sensibilisiert, wie das Gemeinwesen für den Einzelnen nutzbar ist.
- Stadt- und Gemeindeverwaltungen und Unternehmen erhalten die Möglichkeit ihre Tätigkeit eingebettet in den kommunalen Kontext transparent zu machen.
- Durch das Erkennen und Erleben partizipativer Möglichkeiten der Interessenswahrnehmung, kontroverser Diskussionen von unterschiedlichen Positionen, der Notwendigkeit von Kompromissen und der Anerkennung demokratisch legitimierter Mehrheitsentscheidungen wird auch ein Beitrag zur Gewaltprävention geleistet.