Interaktionsstunden - soziales Lernen im Stundenplan (Hessen)
Durchführung bzw. Ablauf (inkl. Verantwortlichkeiten)
Welche Schritte kennzeichnen die Durchführung?
Erläuterungen zum Komplex der organisatorischen Ebene
„Pionierphase“ oder: Entwicklung und Erprobung eines Klassenprogramms
Im Anschluss an eine Fortbildung zu „Mediation/peer group education und Gewaltprävention“ beginnt die Suche nach konkreten Umsetzungsmöglichkeiten, die den spezifischen Gegebenheiten der Aue-Schule gerecht werden können. Interessierte Kolleginnen aus zwei Jahrgängen steigen in die gemeinsame Entwicklungsarbeit mit der Sozialarbeit in der Schule ein. Regelmäßig einmal in der Woche werden Interaktionsstunden (IA-Stunden) durchgeführt. Dabei übernimmt die Mitarbeiterin von SiS die Moderatorenrolle und die Klassenlehrerinnen gehen in die Beobachterrolle. In der anschließenden Reflektion wird sowohl das Gruppengeschehen analysiert, als auch über methodische Fragen diskutiert. Spiele werden erprobt und zusammengetragen. Diese Arbeitsschritte führen zur Entwicklung eines Klassenprogramms (siehe unten).
Schulweite Ausdehnung und Verankerung im Schulprogramm
Aufgrund der guten Erfahrungen in der Entwicklungsphase trifft das Kollegium die Entscheidung, die IA-Stunden in das Schulprogramm aufzunehmen und sie zu einem festen Bestandteil des Schullebens zu machen. Die Schulkonferenz stimmt dem zu. Eine Arbeitsgruppe (AV Interaktion) wird gebildet. Schwerpunktmäßig hat diese Gruppe erprobte Interaktionsspiele gesammelt, verschriftlicht und den entsprechenden Themen zugeordnet. Die Ordner sind allen Kollegen zugänglich. Eine weitere Aufgabe ist die Interaktionspiele zu evaluieren.
Implementierung des Klassenprogramms
In allen Klassen der Jahrgangsstufe 1-3 werden regelmäßig einmal wöchentlich IA-Stunden durchgeführt. Die Schulkonferenz hat beschlossen, diese IA-Stunden aus dem Stundenkontingent des Sachunterrichts zu nehmen. So sind die IA-Stunden fester Bestandteil des Stundenplans an der Aue-Schule und werden dabei bewusst extra ausgewiesen. Dadurch bekommt die Arbeit mit dem Klassenprogramm zum sozialen Lernen einen festen verbindlichen Charakter, der in der Schulöffentlichkeit (Kollegium, Schüler- und Elternschaft) bekannt ist und auch entsprechend wahrgenommen wird. Die IA-Stunden werden - wenn möglich - in Doppelbesetzung: Klassenlehrerin (KL) und SiS oder KL und weitere Lehrkraft, durchgeführt. Die Klassenlehrer/innen müssen auf jeden Fall bei den IA-Stunden anwesend sein. Besteht die Möglichkeit, zu zweit zu arbeiten, sollten KL in die Beobachterrolle gehen.
Im vierten Schuljahr wird allen Klassen eine „Streitschlichter-Woche“ angeboten. In dieser Projektwoche werden alle Schüler/innen der vierten Klassen mit der Mediatorenrolle vertraut gemacht. Sie können sie anschließend in Absprache mit dem Klassenlehrer in der Klasse/Stufe bei Konflikten erproben. Dieses aufeinander aufbauende Modell führt dazu, dass die Idee konstruktiver Konfliktbearbeitung zu einem selbstverständlichen - die Konfliktkultur prägender - Teil des Zusammenlebens an der Schule wird (siehe 3.2.).
Erläuterungen zum inhaltlichen, methodischen Vorgehen
Die Ablaufstruktur einer IA-Stunde
Die Interaktionsstunde setzt sich aus drei Teilen zusammen: die Erklärungs-, die Spiel- und die anschließende Auswertungsphase.
- In der Erklärungsphase werden mit den Schülern die Regeln des Spiels geklärt.
- In der Spielphase treten die Schüler zunächst miteinander in Kontakt und interagieren.
- In der Auswertungsphase wird darüber reflektiert und die Schüler erhalten die Möglichkeit, sich zu dem Spielgeschehen zu äußern. Sie können Kritik oder Wünsche mitteilen und Vorschläge zur Veränderung machen (z.B. unter Anwendung von Nicht-Verletzendend-Ärgermitteilungen, Ich-Botschaften etc) (Durchführung IA-Stunde).
Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die aus dem gemeinsamen Spielprozess zu gewinnenden Erkenntnisse. Auftretende Schwierigkeiten sind als Chance zu begreifen. Sie bieten den Moderatoren Gelegenheiten den Kindern Lernräume zu eröffnen, in denen sie durch eigenes, konkretes Erleben allgemeine - und über die konkrete Spielsituation hinausgehende - Erkenntnisse gewinnen können. (Literaturtipp: dieses Vorgehen entspricht z. B. der Idee des „Erfahren nicht Belehren“ nach Augusto Boal, Theater der Unterdrückten, Frankfurt 1989.) Gerade aus temporär negativ empfundenen Erfahrungen lassen sich Erkenntnisse gewinnen, die die Eigenverantwortung der Kinder fördern. Die Moderatoren sorgen mit einer wertschätzenden Haltung dafür, dass gerade aus Momenten des Scheiterns gelernt werden kann. Offene Fragen unterstützen den Auswertungs- und Lernprozess (Fragen für die Moderation der Auswertungsrunden).
Die Themenfelder der IA-Stunden
Die von der AV - Interaktion zusammengestellte Materialien gliedern sich in insgesamt zehn verschiedene Themenfelder. Sie beinhalten im einzelnen:
- Kennen lernen
- Wahrnehmung
- Körper
- Gefühle
- Kommunikation
- Vertrauen
- Kooperation
- Konfliktbearbeitung
- Entspannung
- Selbstbewusstsein (innere Kompetenzen entwickeln).
Auswahl der Übungen
Im 1. Schuljahr liegt der Schwerpunkt der Spiele auf der Ich-Stärkung, dem gegenseitigen Kennen lernen / Wahrnehmen / Akzeptieren. Gefühle sollen benannt und angehört werden. Wichtig ist das Erarbeiten von wenigen positiven Gesprächs-/Umgangsregeln für die Klasse (Beispiel der Erarbeitung von Umgangs-/ Gesprächsregeln).
Im 2. Schuljahr wird der Bereich die Kooperation in den Mittelpunkt gerückt, die Themen aus dem 1. Schuljahr werden weiterentwickelt, die Umgangsregeln werden gefestigt, Die Empathiefähigkeit und die Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln wird zunehmend gefördert.
Im 3. Schuljahr liegt das Augenmerk verstärkt auf der Konfliktfähigkeit. Dazu gehören z.B. gezieltes Feedback geben und nehmen, Strategien im Umgang mit Ärger / Wut und anderen Gefühlen in Konfliktsituationen, Kommunikation. Die „alten“ Themen werden altersgemäß und klassenbezogen differenziert (z.B. Kennen lernen „Jungen / Mädchen“).
Da Konflikte von Anfang an in der Auswertungsrunde aufgegriffen und mit den Kindern konstruktiv bearbeitet werden, erlernen sie modellhaft Techniken und Prinzipien der konstruktiven Konfliktbearbeitung, die sie z.T. selbst schon in Konfliktsituationen einsetzen bzw. einfordern. (z.B. jeder darf seine eigene Sicht erzählen / ich lasse den anderen ausreden, höre zu / ich sage meine Wünsche an den anderen / wir finden eine Lösung, mit der alle Beteiligten zufrieden sind).
So vorbereitet findet zu Beginn des 4. Schuljahrs das 1-wöchige Streit-Schlichter-Training statt. (tägl. von 8.30 – 12.30 Uhr)
In der Streit-Schlichter-Woche wird das erlernte Grundwissen aus den IA-Stunden mit den Schülern zusammengefasst und gezielt Techniken für die Streitschlichtung trainiert, so dass viele Kinder danach selbst die Rolle eines Streitschlichters im Rahmen der Klasse einnehmen können.
Im Anschluss an die Streit-Schlichter-Woche werden ggf. Themen aus der Woche noch einmal aufgegriffen und intensiviert bzw. weiterentwickelt. Die IA-Stunden im 4. Schuljahr werden von den Kindern eingefordert und von den Lehrerinnen verstärkt genutzt um Klassenthemen zu bearbeiten (z.B. Mobbing / Schulwechsel / Abschied / Freundschaft o.ä.). Die IA-Stunden werden so zu Klassenratsstunden.
(Spiel-Auswahl der in den Klassen durchgeführten Interaktionsspiele).
Die Moderatoren des Klassentrainingsprogramms wählen für die IA-Stunde jeweils ein Spiel aus einem der genannten Themengebiete aus. Dabei richten sie sich nach dem Alter und dem Entwicklungsstand der Lerngruppe (Klasse). Hier kann eine Analyse der vorangegangenen IA-Stunde wichtige Hinweise zur Auswahl des Spiels liefern.
Die Themenfelder können in allen Jahrgangsstufen relevant sein. Viele Spiele berühren Aspekte aus verschiedene Themenfeldern, so dass in der Regel mit einem Spiel mehrere Aspekte deutlich und vermittelt werden können (Beispiel einer Interaktions-Stunde, Stifte balancieren).
Die Moderatoren entscheiden je nach Gruppenstand, worauf sie den momentanen Schwerpunkt legen möchten. Dieses geschieht durch die spezielle Aufgabenstellung für die Durchführung des Spiels und die Fragen in der anschließenden Auswertungsrunde.
Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass man in der Literatur viele Anregungen für die Themen der IA-Stunde findet. Es gibt aber kein Buch, das man als genaue „Anleitung“ verwenden kann:
Oft werden Spiele beschrieben, die sich nicht immer für die Arbeit mit der Klasse eignen. Außerdem hat jede/r Kollege/in seine eigenen Vorlieben, so dass man mit manchen Spielen selbst nichts anfangen kann. Deshalb können wir empfehlen, sich einen Grundstock an Büchern anzuschaffen, aus denen man Spiele wählen und sie ausprobieren kann. So ergibt sich im Laufe der Jahre ein individueller Fundus an Spielen, zu den unterschiedlichen Themenbereichen.
Entscheidend ist ohnehin die Grundhaltung bei der Durchführung der Spiele. Für unsere IA-Materialkisten hat sich das Material „Interaktionsspiele in der Praxis“ gut bewährt (siehe Spiel-Auswahl).
Von der Prävention zur Problembearbeitung - die Tiefenwirkung der IA-Stunden
Die im Zuge der IA-Stunden gewonnenen Erkenntnisse wirken über die Spielsituation hinaus.
Die Schülerinnen und Schüler stellen auch außerhalb der IA-Stunden Bezüge zu den hier thematisierten Fragestellungen her und nutzen ihre gewonnenen Erkenntnisse. Die in den Interaktionsstunden getroffenen Vereinbarungen können in den Schulalltag einfließen. Z.B. werden die hier erarbeiteten „Stopp-Regeln“ bei Störungen von den Schüler/innen auch im Regelunterricht angewendet.
Stopp-Regel:
Wenn ich mit etwas nicht einverstanden bin, habe ich das Recht „stopp“ zu sagen oder ein „Stoppzeichen“ zu geben. Dies muss von den anderen akzeptiert werden.
Schüler/innen zeigen sich im Schulalltag verantwortlich für Konflikte ihrer Mitschüler und holen Hilfe, wenn sie alleine nicht zurecht kommen. Die Idee der Ich-Botschaft können Jungen und Mädchen bereits im 1. Schuljahr aufgreifen und dahingehend verinnerlichen, dass sie sie ganz selbstverständlich nutzen, um anderen ihre Wünsche mitzuteilen (z.B.: Ich möchte, dass du aufhörst...). Die Lehrkräfte unterstützen die Arbeit in den IA-Stunden, indem sie die dort geltenden Vereinbarungen auch im Regelunterricht einhalten: Sie bieten offene Fragestellungen an, um die Schüler/innen zu eigenständigen Handeln zu animieren und deren Ideen und Vorschläge, wenn möglich, ins Klassen- / Schulleben mit einzubeziehen. Durch eine kontinuierliche Reflexion von Arbeitsprozessen, in denen die Schüler/innen auch im Regelunterricht dazu animiert werden, über das Gelingen beispielsweise der Partnerarbeit nachzudenken, wird die soziale Lernspur ständig präsent gehalten.